Wer kennt die mit dem International Booker Prize 2024 ausgezeichnete Bestsellerautorin Jenny Erpenbeck nicht, die seit der letzten Auszeichnung auch zum engeren Kreis der Vorschläge für den Literaturnobelpreis zählt. Seit dem letzten Schuljahr ist ihr Roman „Heimsuchung“ in Hessen und auch in anderen Bundesländern im verpflichtenden Literaturkanon der Oberstufe angekommen, sie selbst bezeichnet sich auch schon als Klassikerin, mit einem lächelnden Auge, da ihr Werk „Heimsuchung“ auch im Klassikerverlag Reclam veröffentlicht wurde.
Doch wer ist die Dame und worüber geht ihr viel diskutierter und manchmal nicht verstandener Roman? Um diesen Fragen nachzugehen, gab es am 23.09.2024 an unserer Schule in Kooperation mit der Christlichen Schule Hanau unter Leitung von Herrn Rubinich eine Lesung mit Frau Erpenbeck mit einer sich anschließenden sehr ausführlichen Fragerunde.
Erpenbeck ist eine der ersten ostdeutschen Autorinnen, die es geschafft hat, sich international einen größeren Namen zu machen als in Deutschland selbst. Wie kommt das? Ihr Werk ist nicht immer ganz leicht im Original zu verstehen. Der Roman „Heimsuchung“ zum Beispiel wechselt zwischen verschiedenen Zeitepochen sogar innerhalb einzelner Kapitel zwischen dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts unter Verwendung vieler veralteter Fachbegriffe, über die NS-Zeit, die DDR-Diktatur bis in die Neuzeit nach der Wiedervereinigung. Signalwörter und verwendete Personen und historische Ereignisse dienen dabei dem Leser als Orientierung, diese Zeitebenen rund um einen märkischen See zu verstehen. Dieser See spielt schon in der Biografie von Erpenbeck selbst eine große Rolle, da ihre Großeltern in der DDR an ihm ein Grundstück besaßen, wo sie selbst groß wurde. Nach der Wiedervereinigung wurde dieses seinen rechtmäßigen Besitzern wieder zurück gegeben, die aus der DDR fliehen mussten, wodurch Erpenbeck aber einen wichtigen Teil ihrer Heimat und Kindheit verlor.
Heimat und Heimsuchung, zwei Begriffe, die im Werk immer wieder thematisiert werden. Was ist Heimat, wurde Erpenbeck in der Lesung gefragt. Für den Architekten im Werk ist es das Bauwerk, für den Gärtner der Garten, für Erpenbeck die Sprache? Auch der schon seit einiger Zeit verstorbene Literaturpapst Marcel Reich- Ranicki hat die Literatur als seine Heimat angesehen, nicht Deutschland. Verständlich durch seine Erfahrungen als Jude im Dritten Reich, da seine ganze Familie im Konzentrationslager getötet wurde. Auch für Erpenbeck scheint Deutschland nicht als Heimat in Frage zu kommen, eher schon die Freunde und ihr Umfeld. Geprägt durch die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit bei der Wiedervereinigung ist ihr Verhältnis sehr zwiegespalten zur BRD.
Auch die Protagonisten im Werk verlieren ihre Heimat, der Architekt muss gen Westen fliehen, die neuen Besitzer verlieren ihr Grundstück nach der Wiedervereinigung.
Neben dem Heimatbegriff spielt auch die Aufarbeitung der Geschichte eine wichtige Rolle im Roman, wobei dem Leser aber keine Antworten vorgegeben werden. Im Gegenteil. Der Leser soll nachdenken. Ist die Rotarmisten-Szene eine Vergewaltigung? Kann ein Opfer bei einem sexuellen Übergriff den Spieß einfach umdrehen? Wieso reagieren Beobachter bei dem Missbrauch eines Kindes nicht? Wie würde ich reagieren in bestimmten Situation und was macht eine falsche Passivität mit mir im Nachhinein. Der Roman lässt Spuren zurück. Egal ob man den Roman „gut“ oder „schlecht“ findet, ob man ihn ganz verstanden hat oder nur Teile. Und das macht ihn auch zu etwas Besonderen, er fällt aus der Masse heraus. Nicht zuletzt auch durch die riesige Faktenflut, die Erpenbeck selbst recherchiert hat. Von dem jüdischen Mädchen Doris Kaplan, die wie ihre Eltern durch die Nazis getötet wird bis hin zu den verkauften Gegenständen der jüdischen Familie, die eigentlich nach Brasilien verschifft werden sollten.
Auch die unsterbliche, zeitlose Figur des Gärtners fasziniert den Leser, die einzige Konstante im Werk will einfach nicht sterben, auch am Ende seines Lebens stirbt sie nicht, sie geht einfach weg. Wohin? Das weiß man nicht. Der Zyklus der Eiszeit im Prolog, mit dem sich ewig wiederholenden Kreislauf des Lebens wird in dieser Figur personifiziert und spielt auch in der Konstante des Sees und der sich verändernden Anwohner, Häuser und Gärten eine wichtige Rolle.
Also wie ist der Roman insgesamt zu bewerten? Sollte man ihn lesen? Freiwillig? Egal wie man politisch oder sprachlich zu Erpenbeck steht, scheint ihr literarisches Werk in die Geschichte einzugehen, wie die Literatur von Goethe oder Schiller. Nicht umsonst hat sich Reclam dafür entschieden, sie neben diesen Klassikern zu veröffentlichen. Es führt also gar kein Weg um sie herum, man muss sich mittlerweile mit ihr auseinandersetzen, mit viel Faktenwissen, das man sich vorher aneignen muss, denn ohne eine Überprüfung der Aussagen und eine kritische Reflexion könnte man auch in eine bestimmte Richtung unbewusst beeinflusst werden.